Aus dem Buch "Free Mumia", erschienen April 2002
Ein Löffel Honig in einem Faß voll Teer
Die Aufhebung des Todesurteils gegen Mumia Abu-Jamal
Und wieder einmal ist alles anders als erwartet: Tag X ist vorbei. Der Tag, auf den die weltweite Bewegung zur Unterstützung Mumia Abu-Jamals so lange gewartet hat, der Tag, an dem Bundesrichter William Yohn in Philadelphia eine Anhörung darüber ansetzen sollte, ob Mumia ein neues Verfahren bekommt und neue Beweise für seine Unschuld an der Ermordung des Polizeibeamten Daniel Faulkner am 9. Dezember 1981 vorbringen kann, hat ohne uns stattgefunden.
Es hätte ein Tag der internationalen Solidarität mit Mumia, ein Tag der Kundgebungen gegen das über ihn verhängte Todesurteil und gegen die Todesstrafe überhaupt werden sollen. Aber ohne Vorankündigung, ohne Anhörung der Parteien und ohne Anhörung auch nur eines einzigen Zeugen oder Beweises hat Richter Yohn am 18. Dezember entschieden, Mumias Antrag auf Überprüfung der verfassungsmäßigen Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung, den Habeas Corpus Antrag, in allen Punkten abzulehnen - bis auf einen einzigen mit weitreichenden Folgen: er hat das Todesurteil gegen Mumia aufgehoben.
Es klingt wie ein Wunder. Genau besehen schrumpft dieses Wunder jedoch auf Erbsengröße: von mehreren hundert Seiten juristischer und faktischer Argumentation der Verteidigung wird einzig der magere Punkt 25 anerkannt: die Instruktionen von Richter Sabo an die Geschworenen und das an sie ausgegebene Urteilsformular bei der Strafzumessungsphase im Prozeß 1981 entsprach nicht den gesetzlichen Anforderungen.
Diese Anweisungen und Formulare, die bis 1989 in einigen Bundesstaaten der USA und auch in Pennsylvania verwendet wurden, hätten eine falsche und "unvernünftige" Auslegung der Bundesgesetze nahegelegt, indem sie den irrtümlichen Schluß aufdrängten, mildernde Umstände dürften bei der Strafzumessung nur dann eine Rolle spielen, wenn die Geschworenen darüber einstimmig einer Meinung seien.
Dies habe zu einer inakzeptablen Gefahr der Verwirrung bei den Geschworenen über die angemessene Prozedur bei der Strafzumessung geführt und könne daher nicht aufrechterhalten werden.
Die gute Nachricht hierbei: auch alle anderen Todesurteile, die unter Verwendung dieses Formulars zustande kamen, sind nun ebenso anfechtbar wie das Todesurteil gegen Mumia.
Dies ist der einzige von insgesamt 39 Punkten in den beiden Habeas-Corpus-Anträgen Mumias, dem Yohn stattgegeben hat. Der Schuldspruch "Mord Ersten Grades" wird ausdrücklich aufrecht erhalten, das einzige, was jetzt zur Debatte steht, ist die Umwandlung des Todesurteils in lebenslängliche Haft.
Angesichts aller vorgelegten Punkte, insbesondere der neuen Beweise für Mumias tatsächliche Unschuld, ist das ein einziger, zum Himmel schreiender Skandal.
Zwei Habeas-Corpus-Anträge - beide abgelehnt
Bundesrichter Yohn hat zwei Entscheidungen getroffen - einmal zum ursprünglichen Habeas-Corpus-Antrag Mumias vom Oktober 1999 und zum anderen zur erweiterten Version dieses Antrags, den Mumias neue Verteidigung im August 2001 eingereicht hat.
Seinen Bescheid zum ersten Antrag breitet Yohn auf 272 Seiten aus, der Abschmetterung des ergänzten Antrags widmet er ganze 27 Seiten - und beide Entscheidungen kann man nur als Dokumente des Grauens bezeichnen.
Bei seiner Ablehnung des ersten Antrags macht Yohn sich noch die Mühe, die eingereichten Punkte einzeln abzuhandeln, der zweite Antrag, der einen alternativen Tathergang präsentiert und unter anderem mit dem Geständnis des Berufskillers Arnold Beverlys erstmals handfeste Beweise für Mumias Unschuld vorlegt, wird pauschal und auf rein formaljuristischer Ebene abgeschmettert.
Ein Gesetz zur staatlichen Produktion von Toten
Wie auf ein Mantra beruft Yohn sich dabei wieder und wieder auf das 1996 verabschiedete "Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Effektivierung der Todesstrafe" (AEDPA). Zur Essenz dieses Gesetzes heißt es bei Yohn, die für die Bearbeitung von Habeas-Corpus-Anträgen zuständigen Bundesgerichte seien dadurch nunmehr dazu aufgefordert, grundsätzlich "von einer Richtigkeit der faktischen Beurteilungen durch die Staatsgerichte auszugehen."
Im Klartext: Einmal gefällte Urteile sind, von wenigen extremen Ausnahmen möglicherweise abgesehen, als richtig zu betrachten, und die Aufgabe der Bundesgerichte besteht fürderhin darin, die Vollstreckung dieser Urteile zu beschleunigen. Dies geschieht vor allem durch die Einführung rigider Zeitlimits für die Einreichung von Berufungsanträgen, eine Praxis, die von Yohn enthusiastisch kommentiert wird:
"Früher waren viele zum Tode verurteilte Angeklagte der Meinung, ihren Interessen sei am besten damit gedient, daß sie die Einreichung von Habeas-Corpus-Anträgen hinauszögerten, bis sie durch einen Hinrichtungsbefehl dazu gezwungen wurden. Die Durchsetzung von Zeitlimits wird auch dieser Taktik einen Riegel vorschieben."
Zweck dieses Gesetzes ist nichts anderes als eine vermehrte, öffentlich als "Kampf gegen Kriminalität" präsentierbare Zahl von Hinrichtungen, eine Beschleunigung der staatlich betriebenen Fließbänder des Todes.
Die Konsequenzen dieser Auffassung ziehen sich durch den gesamten Text der beiden Entscheidungen Yohns.
Ein bißchen Rassismus
So heißt es über den rassistisch voreingenommenen Richter Sabo, der 1981 das Todesurteil verhängt hatte: "Es ist eine Sache, ob ein Richter die Polizei favorisiert oder ein Individuum (Jamal) ablehnt; es ist jedoch eine ganz andere Sache, ihm rassistische Beweggründe zu unterstellen. Wenngleich keine von beiden Haltungen entschuldbar ist, sind dies jedoch entschiedene Behauptungen, zu deren Erhärtung ganz unterschiedliche Beweise nötig wären. Nichts in Jamals erstem Antrag hat die Gerichte darauf aufmerksam gemacht, daß sie die rassistische Haltung von Richter Sabo würden untersuchen müssen."
Im Klartext: Ob ein Richter vielleicht ein kleines wenig rassistisch ist, fällt nicht ins Gewicht, wenn der Angeklagte sich darüber nicht "rechtzeitig" beschwert hat. Auf der anderen Seite muß aber auch auf die Zeugenaussage der Gerichtsschreiberin Terry Maurer-Carter vom September 2001, Richter Sabo habe in einer Prozeßpause gesagt "Ich werde ihnen [der Anklage] helfen, den Nigger zu grillen" mit keinem Wort mehr eingegangen werden, denn diese Aussage kommt zu spät, weil sie hätte früher kommen müssen.
Catch 22 nennt der amerikanische Sprachgebrauch diese Argumentationslogik: mach es, und es ist falsch, weil es nicht stimmt; mach es nicht, und es ist falsch, weil du es nicht gemacht hast.
Zu Mumias Begründung für die verspätete Einreichung der neuen Beweise, daß nämlich seine ehemaligen Anwälte Weinglass und Williams dagegen gewesen seien, heißt es kurz und bündig: "Das Problem...ist, daß der Antragsteller in diesem Stadium des Verfahrens (den Anhörungen zur Wiederaufnahme) gar kein verfassungsmäßiges Recht auf anwaltliche Vertretung hat." Es möge gravierende Gegenurteile dazu gegeben haben, diese träfen hier aber nicht zu.
Im Klartext: Die haarsträubende Tatsache, daß ein Todeskandidat nach amerikanischem Recht nur im ersten und strafbestimmenden Teil des Prozesses ein Recht auf einen Anwalt hat, fegt alle Argumente gegen eine Hinrichtung oder ein lebenslanges Urteil vom Tisch - dein Anwalt hat dich nicht gut vertreten, das macht nichts, weil du ohnehin keinen Anspruch auf einen Anwalt gehabt hättest; es geht zwar um dein Leben, aber jetzt ist es eben zu spät, aus welchem Grund auch immer.
Zum entscheidenden Unschuldsbeweis des Zeugen Beverly heißt es lapidar: "Jamal kann seinen Antrag nicht um diesen neuen Beweis erweitern, weil dieser Beweis sich in keiner Weise auf den ursprünglichen Antrag bezieht......Diesen Bezug zu gestatten... würde bedeuten, daß Jamal eine Ausweitung der Zeitbegrenzungen innerhalb des Gesetzes zur Effektivierung der Todesstrafe gestattet würde, wovor das Dritte Bezirksgericht ausdrücklich gewarnt hat." Und weiter: "Selbst wenn die Erklärung Beverlys vom 8. Juni 1999 nicht früher verwertbar gewesen sein sollte, setzt das Gesetz zur Effektivierung der Todesstrafe in diesem Fall eine zeitliche Deadline am 8. Juni 2000."
Auch die neu eingeführte Behauptung der tatsächlichen Unschuld könne diese Frist nicht verlängern, weil keine wie auch immer geartete Ausnahme in dieser zeitlichen Beschränkung vorgesehen sei. Die einzig denkbare Möglichkeit für eine solche Ausnahme sei, daß "der Antragsteller beweisen könne, daß die Präsentation des Zeugen Beverly im ursprünglichen Prozeß es mehr als wahrscheinlich gemacht habe, daß kein vernünftiger Geschworener ihn verurteilt hätte". Das sei ihm nicht gelungen. Im Klartext: Der Beweis wird nicht gehört werden, weil der Richter ihn nicht hören will. Die mögliche Wahrheit würde das angestrebte schnellere Vollstrecken aller Todesurteile nur unnötig verkomplizieren.
Also alles abgelehnt. Und so geht es fort und fort zum ersten Antrag - das Urteil von Richter Sabo wird in allen Einzelheiten bestätigt und in Stein gemeißelt, alle 29 aufgelisteten Verfahrensfehler, die amnesty international, immer behutsam und um äußerste Objektivität bemüht, zu der Aussage veranlaßten, der Prozeß sei eine Farce gewesen, werden abgetan, vom Tisch gewischt und in den Paragraphendschungeln anderer Urteile begraben.
Hier ist nicht Recht gesprochen, sondern Unrecht zementiert worden.
Unschuld kein Schutz vor Strafe
Wir erinnern uns an Yohns Zitat des Herrera-Urteils, mit dem er die Vernehmung des geständigen Mörders Beverly abgelehnt hat: "Die mutmaßliche Unschuld eines zum Tode Verurteilten ist kein Hinderungsgrund für seine Hinrichtung, sofern er einen rechtmäßigen Prozeß gehabt hat." Yohn eigene Taktik ist wesentlich geschickter: Die mutmaßliche Unschuld eines zum Tode Verurteilten ist kein Grund für die Anhörung der Beweise für eben diese Unschuld. Ein Verurteilter, dessen Verfahren mittlerweile die halbe Welt mit Argusaugen verfolgt, der letzte Woche zum Ehrenbürger von Paris ernannt worden ist wie vor ihm nur Pablo Picasso, der hunderttausende von FürsprecherInnen hat, dessen Fall maßgeblich dazu beigetragen hat, die Praxis der Todesstrafenverhängung in den USA und ihre juristischen Ungeheuerlichkeiten weltweit in ein mehr als schiefes Licht zu rücken - ein solcher Verurteilter soll jetzt nicht etwa ein neues Verfahren bekommen, sondern den Tod auf Raten in lebenslanger Haft. Sei er nun der Mörder des Polizisten gewesen oder nicht.
Jetzt mehr denn je: On the move
Richter Yohn hat angeordnet, daß eine neue Jury innerhalb von 180 Tagen darüber befinden muß, ob Mumia erneut zum Tod oder "nur" zu Lebenslänglich verurteilt wird. Kommt innerhalb dieser 180 Tage kein neuer Geschworenenspruch zustande, lautet die Strafe automatisch Lebenslänglich.
Die Staatsanwaltschaft Philadelphias, der es ein Herzensanliegen ist, Mumia endlich sterben zu sehen, hat bereits Berufung bei 3. Bundesberufungsgericht angekündigt - der letzten Instanz vor dem Obersten Gerichtshof der USA, der sich äußerst selten mit solchen Fällen befaßt.
In Berufung gehen wird selbstverständlich auch die Verteidigung, und Vertreter der amerikanischen Solidaritätsbewegung für Mumia haben ihren Standpunkt zu den Entscheidungen Yohns bereits unmißverständlich deutlich gemacht:
"Dies ist kein Sieg! Laßt euch nicht betrügen! Lebenslänglich ist nicht das, was wir verlangen. (...) Wir fordern Mumias bedingungslose Freilassung! Wir werden uns nicht mit weniger zufrieden geben." (youth-4-mumia)
Ja. Wir auch nicht. Eine bundesweite Konferenz aller Interessierten im Frühjahr ist unser nächster Wunsch.
Annette Schiffmann, Michael Schiffmann