« zurück «

Krieg oder Frieden: Warum?
Kolumne von Mumia Abu-Jamal


Die Stimme der Anruferin klang herzerweichend traurig, als sie den sprachlosen Moderator der Talk Show anflehte, ihr doch bitte zu sagen, "warum uns diese Leute so sehr hassen, warum?"

In ihrer Frage, die nicht repräsentativ ist für das, was die Medien in diesen Tagen verbreiten, spiegelt sich das Denken von Millionen Amerikanern wieder, die auf die Trümmer des World Trade Centers schauen, vom kalten Grausen gepackt werden und sich fragen: "Warum?"

Dies ist eine typisch amerikanische Reaktion, typisch für eine Kultur, die kein Gestern kennt, nur das Morgen ihrer leiblichen Genüsse, ihrer fettarmen Eiscreme und schillernden Luxuswagen.

Für viele Amerikaner stehen John Wayne oder die Gründungsväter, die angeblich makellos und ohne Tadel waren, für die amerikanische Geschichte. Die Welt außerhalb der USA ist nur von Belang, solange das Empire sie sich zum Objekt macht, und deshalb ist sie eigentlich überflüssig. Die Geschichte anderer Völker, obwohl zutiefst mit den USA verwoben, hat keinen ernsthaften Einfluß auf Amerika. Deshalb die Frage: "Warum?"

Diese fast halsstarrige Ignoranz vieler Amerikaner erlaubt es ihnen, ihren Blick auf das angegriffene Kriegsschiff U.S.S. Cole und die am 11. September in das World Trade Center stürzenden Flugzeuge zu richten und zu fragen: "Warum?"

Jene Leserinnen und Leser, die nicht wirklich eine Antwort auf diese rhetorische Frage hören wollen, sollten einfach weiterblättern, denn die Antwort des Verfassers wird niemand wirklich gefallen.

Die Bombardierung des WELTHANDELS-Zentrums und des Pentagon durch die in Explosivwaffen verwandelten Flugzeuge hat nicht erst am 11. September 2001 begonnen, und sie ist auch nicht, wie einige Politiker zungenfertig erklären, "ein Krieg gegen die Zivilisation". Politiker wollen nicht wirklich informieren. Das ist eigentlich die Aufgabe der Medien, aber denen geht es nur ums Verkaufen, und deshalb wollen sie niemanden beunruhigen. Sie fühlen sich nicht in erster Linie ihren Lesern oder Zuschauern, sondern ihren Eigentümern und Aktionären gegenüber verantwortlich. Und es ist im Interesse des militärisch-industriellen Komplexes, daß Millionen Menschen uninformiert bleiben und desinformiert werden.

Die Vorgeschichte der Selbstmordflüge gegen New York, Washington und Pennsylvania begann in den Bergregionen Afghanistans während des zehnjährigen Guerillakrieges gegen die frühere Sowjetunion. Die CIA unterstützte diesen Krieg durch Waffen und Milliarden von Dollars, die in den antisowjetischen Aufstand gepumpt wurden. Das Ergebnis? Ein algerischer Soziologe sagte es einem amerikanischen Journalisten in Algiers: "Ihre Regierung hat sich daran beteiligt, ein Ungeheuer zu schaffen." Der Soziologe fuhr fort: "Und nun hat es sich gegen Sie und die ganze Welt gewendet - 16.000 Araber wurden in Afghanistan trainiert und verwandelten sich dort in wahre Kampfmaschinen." (Los Angeles Times, 4.8.1996)

Ein US-Diplomat in Pakistan, der diese Einschätzung teilt, wurde in derselben Zeitung zitiert: "Diese Ereignisse sind eine tragische Bestätigung des Ausspruchs, daß Gewalt immer auf ihre Urheber zurückfällt. Man kann nicht Milliarden von Dollars in einen antikommunistischen "Heiligen Krieg" pumpen und es dulden, daß Kämpfer aus aller Welt sich dort beteiligen, und dann die Konsequenzen außer acht lassen. Aber genau das haben wir getan. Wir wollten Afghanistan nicht Frieden bringen, sondern die Kommunisten töten und die Russen aus dem Land vertreiben."

Wie haben die Afghanis in diesem armen und vom Krieg zerstörten Land wohl die gelieferten Waffen bezahlt? Kaum jemand weiß, daß Afghanistan der größte Heroinproduzent der Welt ist. Da es den afghanischen Mujaheddin an harter Währung fehlt, haben sie die Waffen bei ihren Lieferanten von der CIA mit Heroin bezahlt. Auf diese Weise ist der Heroinring "Golden Crescent" (Goldener Halbmond) entstanden.

Als man die Sowjets endlich vertrieben und den Krieg beendet hatte, sahen sich die Aufständischen um und mußten feststellen, daß sie es nicht mehr mit einer Vorherrschaft der Sowjetunion, sondern der USA in der Region zu tun hatten. Sie sahen die Präsenz des US-Militärs an den Heiligen Stätten des Islam in Saudi Arabien und wie es undemokratischen Vasallenstaaten den Rücken stärkte. Mußten zusehen, wie das US-Militär den Irak verwüstete und einseitig den Staat Israel zum Nachteil des besetzten Palästina unterstützte. Sie analysierten also die US-Politik und stellten fest, daß die Vereinigten Staaten ähnliche imperialistische Bestrebungen haben wie die Sowjetunion.

In Afghanistan, einem der ärmsten und zerklüftetsten Flecken dieser Erde, haben Männer eine Lebenserwartung von 46 und Frauen von 45 Jahren. Nur 29% der Einwohner können lesen und schreiben. Afghanistan schaut auf den maßlosen Reichtum des amerikanischen Empires und seine globale Ausdehnung und Zorn wallt auf. Diese nationalen, kulturellen, religiösen und Klassenunterschiede nähren einen tiefen und beständigen Haß gegen die amerikanische Dominanz.

Die islamische Welt hatte seit dem Fall des Osmanischen Reiches im Jahr 1922 und der kolonialen Ära der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Demütigungen zu erleiden. Menschen, die gedemütigt werden, können große Triebkräfte entwickeln. Fast wäre es Deutschland unter Führung eines aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Österreichers nach dem Ersten Weltkrieg gelungen, auf dieser Basis die ganze Welt zu erobern. Diese Hintergründe dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

Afghanistan wird sich als ein weiterer Wendepunkt in der Weltgeschichte erweisen, deshalb müssen wir daraus lernen.

Übersetzung: Jürgen Heiser Erschienen am 29. September 2001 in der Berliner Tageszeitung junge Welt Die Kolumnen von Mumia Abu-Jamal erscheinen jeweils in der Wochenendausgabe der Tageszeitung junge Welt.