Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 27, 1./2. Februar 2003
In der aktuellen politischen Auseinandersetzung taucht oft die Frage auf: Was ist eigentlich ein Liberaler? Der Dichter Robert Frost gab einmal folgende Definition: »Ein Liberaler ist jemand, der zu tolerant ist, um in einem Streit die eigene Partei zu ergreifen.« Dichter haben manchmal die Gabe, komplexe Zusammenhänge mit einfachen Worten auszudrücken.
Im politischen Kontext der US-Gesellschaft wird das Wort »liberal« meist als Attribut oder auch als Schimpfwort benutzt. Nur wenige Politiker pflegen sich selbst als »liberal« zu bezeichnen. Darin zeigt sich die Macht des amerikanischen Konservatismus, der seine Gegner nötigt, solche Bezeichnungen zu meiden. Es zeigt aber auch, welche Macht das konzentrierte Kapital in den USA ausübt, das durch Fusionen und Aufkäufe mittlerweile den größten Teil der Medien besitzt und auf diese Weise das gesamte soziale und politische Umfeld zunehmend auf konservative, an den Geschäftsinteressen des »freien Marktes« orientierte Inhalte ausrichtet.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des politischen Liberalismus in den USA ist unbefriedigend. Es ist nicht möglich, den Begriff zu erwähnen, ohne Namen von US-Präsidenten und Senatoren wie Kennedy, Johnson oder Humphrey wachzurufen. In afroamerikanischen Haushalten hängen die Bilder der Kennedy-Brüder gleich neben dem Konterfei von Martin Luther King jr. oder einem Gemälde des weißen Jesus Christus. Sie haben Ehrenplätze in den Ecken der Wohnzimmer und Küchen, in denen das Allerheiligste der Familien aufbewahrt wird.
Aber wie viele Menschen, die John F. Kennedy als Präsidenten und seinen Bruder Robert als Justizminister verehrt haben, wissen wohl, daß es diese beiden waren, die dem FBI die Genehmigung erteilten, Reverend Martin Luther King illegal zu überwachen und sein Telefon abzuhören? Und daß sie keine Probleme damit hatten, die so gewonnenen Informationen politisch zu nutzen? Nicht anders war es unter Präsident Lyndon B. Johnson. Während er Bürgerrechte vom Kongreß verabschieden ließ, die in der US-Geschichte einzigartig sind, verletzte das unter seinem Befehl stehende FBI gleichzeitig die verfassungsmäßigen Rechte Hunderttausender Amerikanerinnen und Amerikaner mit dem Geheimdienstprogramm COINTELPRO, das die innerstaatliche Opposition ausforschen und vernichten sollte.
Und wer weiß schon, daß nur zwei Monate vor der Ermordung von John F. Kennedy der Vize-Direktor des FBI, William Sullivan, die US-Bürgerrechtsbewegung als »eine klare Bedrohung der staatlichen Ordnung« beschimpfte? Noch früher, nämlich 1950, waren es »liberale« Senatoren wie Hubert Humphrey und Herbert Lehman, die die Errichtung von »Internierungslagern« vorschlugen, in denen »verdächtige subversive Kräfte« ohne Gerichtsverfahren eingesperrt werden sollten. Ihre Vorlage wurde verabschiedet und blieb zwanzig Jahre lang Gesetz. Erst 1968 wurde es wieder außer Kraft gesetzt.
Die Wurzeln dieser Art von Verrat durch »Liberale« reichen also weit zurück. Der Liberalismus hat dieses Merkmal immer beibehalten und hat es unter Präsident Clinton sogar noch perfektioniert, für dessen Politik der Begriff des »Neoliberalismus« entwickelt wurde. Neoliberalismus ist seinem Wesen nach nichts anderes als Konservatismus im modischen Gewand. Denn wenn die Konservativen den Interessen des Kapitals dienen und sich aus seinen Reichtümern nähren, dann ist das mit den Liberalen nicht anders. Beide unterstützen ein System, für das der Schutz des Kapitals an erster Stelle steht. Anders gesagt: liberale Politikerinnen und Politiker beziehen die Mittel, die sie brauchen, um wachsen und gedeihen zu können, aus derselben Quelle.
Sie geben ihrer Wählerschaft Versprechen, die sie wieder brechen, sobald sie im Amt sind, weil sie ganz anderen Herren dienen. Beim leisesten Druck von dieser Seite verraten sie ihre Wählerinnen und Wähler - so wie es bei Clinton gang und gäbe war.
Es ist an der Zeit, radikalere Positionen zu beziehen.
Übersetzung: Jürgen Heiser